Es ist ein Mittwoch im Januar. Ruud fährt mit dem Fahrrad durch den kalten Wintermorgen zum Bahnhof. Er ist gut in der Zeit und sollte nicht lange auf den Zug in die Stadt warten müssen. Das mochte er nämlich gar nicht. Warten. Vor allen Dingen nicht im Winter.
Er biegt in die Bahnhofstraße ab, parkt sein Fahrrad im Fahrradständer und läuft in Richtung Gleise. Seit zwei Wochen steht etwas Wasser im Zugang zu den Gleisen. So auch heute. Der Aufzug rechts davon, scheint passenderweise defekt zu sein und ist mit „Feuerwehr-Sperrzone“-Band abgesperrt. So muss er sich vorsichtig den Weg durch die Pfütze bahnen um trockenen Fußes die Treppen nach oben zu erreichen. Während er wie immer die Stufen nach oben zählt, betrachtet er die verschiedenen Fußabdrücke, die die Leute vor ihm hinterlassen haben.
„Wer in die Fußstapfen anderer Leute tritt, hinterlässt keine Spuren“ murmelt er innerlich vor sich hin und tritt bewusst daneben. Oben angekommen fällt sein Blick auf die Anzeige am Gleis. Irgendwas mit „Wintereinbruch in Süddeutschland und Auswirkungen auf den gesamten Bahnverkehr“ liest er im Vorbeigehen. „Das machen die nur, damit sie eine Ausrede für Verspätungen haben! Arschlöcher!“
Er will gerade checken, wann genau der Zug nach der letzten Planänderung abfährt, da knackt auch schon der Lautsprecher: „Eine Durchsage für den RE9 von Osnabrück Richtung Bremerhaven, planmäßige Abfahrt um 0833h, heute ca. 16 Minuten später. Grund dafür ist eine Verspätung aus vorheriger Fahrt!“
Ruud überlegt kurz ob er nochmal zum nächsten Bäcker läuft, damit er nicht sinnlos am Gleis in der Kälte steht. In zwanzig Minuten könnte er das locker schaffen. Aber nur wenn da nicht wieder der übergriffige Rentner mit seinen Sonderwünschen vor ihm wäre, der dem Fachpersonal in Heinrich-Lohse-Manier vorschreiben will, wie sie ihren Job – oder ihre Berufung – zu erledigen hätten. Das Risiko wollte er nicht eingehen. Da würde er Gefahr laufen, den verspäteten Zug zu verpassen und müsste dann noch länger in der Kälte ausharren. Außerdem müsste er dann ja auch noch zwei Mal durch die Pfütze stiefeln.
Nee-nee, lass mal lieber. So bleibt er windgeschützt hinter dem Wartehäuschen vom Gleis der Gegenrichtung stehen und überlegt, womit er die Wartezeit überbrücken könnte. Er bekam kalte Füße und musste plötzlich an seine Grundausbildung in Rotenburg/Wümme denken. Dort hatte er im Januar 2003 seinen Grundwehrdienst angetreten. Es war ein viel kälterer Winter als heute und die ersten Tage liefen er und seine Mitrekruten nur in einheitlichen blauen Trainingsanzügen aus den 70ern herum, dem sogenannten „Schlumpftarn“, die sie am ersten Tag nach der Meldung zum Dienst, patzig überreicht bekamen.
„NÄCHSTER!“
„Ja!“
„Jawohl heißt, das!“
„OK!“
„Nichts OK. Jawohl!“
„Äh, jawohl Herr äh …“
„Name?“
„Ruud!“
„Größe?!“
„M!“
„So, hier. Weiter. Da rüber. NÄCHSTER!“
Außerhalb der Gebäude durften sie sich nur geordnet und in Gruppen bewegen und wurden von den zuständigen Grundausbildern zu den Mahlzeiten in die Kantine geführt, damit keiner verloren geht. Drei Rekruten nebeneinander und ganz ganz viele hintereinander. Anfangs noch durcheinander, später nach Größe sortiert. Die Großen vorne, die kleinen hinten. Immer schon draußen vor dem Kompaniegebäude in der Kälte antreten und warten. Der Ausbilder gab Kommandos: „Achtung. Rechts um. Im Gleichschritt. Marsch! Links, zwo, drei vier!“
Anfangs hoppelten alle vor sich hin, schauten auf den Boden um ja dem Vordermann nicht in die Hacken zu laufen. Später sah es so aus, als hätten sie ihr Leben lang nichts anderes gemacht.
Es war arschkalt und irgendwann erbarmte sich jemand und erlaubte das Tragen der eigenen und zivilen Winterjacke, bis es nach Bremerhaven zur Einkleidung ging. Ausgestattet mit der dienstlich gelieferten Winterkleidung wurde dann stundenlang „Formaldienst“ und sogenannte „Antrete- und Richtübungen“ exerziert. Sowas wie Zumba nur ohne Tanzen. Ein Bewegungskurs in Gruppen, damit das nicht so scheiße aussieht, wenn man sich in einer großen Gruppe von 120 Leuten von A nach B bewegt. Richtig laufen will gelernt sein. Und richtig stehen. Bloß nicht an Wände anlehnen. Das zog eine „Sind Sie Statiker-Frage“ nach sich und wurde meistens mit einem „Die Wand steht auch von alleine“ ergänzt. Oder Hände in den Taschen: „Haben Sie heute Geburtstag?“ „Nee, wieso?!“ „Dann nehmen Sie gefälligst die Hände aus den Taschen!“ Mario Barth hätte den Spaß seines Lebens gehabt.
Während eines Formaldienstes, der auf Schnee bedeckten und vereisten Kasernenstraßen stattfand, und Ruud damit beschäftigt war, ja nicht hinzufallen und sich zu verletzen, wurde er immer wieder von dem neben ihm herlaufenden Stabsunteroffizier mit siebenschrötigem Bauerngesicht, der höchstens zwei Jahre älter war als er, darauf aufmerksam gemacht, er verschleppe den Schritt. Ruud wusste nicht, was gemeint war. Er versucht nur nicht hinzufallen. Selbstschutz quasi. In dem Moment war es ihm nicht möglich, den Gleichschritt zu halten. Das müsste der StUffz doch aber auch selbst erkennen, dachte Ruud. Tat er aber scheinbar nicht. Obwohl er immerzu wie ein Wachhund nur auf die Beine und Füße der Gruppe achtete und die vereiste Straße ebenfalls bemerkt haben müsste.
Neben dem Formaldienst standen auch erste Waffenausbildungsstunden auf dem Plan. Um zu den meist Outdoor-Ausbildungsstellen zu gelangen, musste man nach Antrete- und Richtübungen vor der Waffenkammer, geordnet vor dem Gebäude warten und dann anschließend unter Anwendung der im Formaldienst erlernten Gruppenfortbewegung „verlegen“.
So fand sich Ruud einige Minuten später mit seinem Gewehr G3 zitternd auf einer Kokosmatte im Schnee liegend. Nicht weil er Angst hatte, es könne sich ein Schuss lösen (was mit der unscharfen Übungsmunition ohnehin nicht möglich war), sondern weil es einfach nur kalt war, und die zu großen grauen Lederhandschuhe alles andere machten, als seine zarten und für Büroarbeit vorgesehenen Hände zu wärmen.
Der Ausbilder bemerkte das und forderte ihn mit den Worten „Sie da, Frostbeule, wie lautet der Ladezustand Ihrer Waffe?“ auf, das Erlernte anzuwenden.
„Ge-wehr G3 ent-laden, Pa-tro-nen-lager frei, ent-spannt und ge-sichert!“ bibberte es aus Ruud heraus.
Daran muss Ruud denken. Immer wenn er im Januar irgendwo in der Kälte warten muss.