Vor ein paar Tagen flatterte in eine meiner Whatsappgruppen eine scheinbar harmlose Bildnachricht mit dem Zusatz „Grad hier in der Nähe von Hude entdeckt“ rein.
Ich tippte auf die Meldung. Das Bild öffnete sich. Ich erstarrte. Mir wurde heiß und kalt. Das wird doch nicht?! Mooooment. Erstmal ranzoomen. Das gibt’s doch nicht. Die stand doch in dem Schuhgeschäft. Unten vor der Rutsche. Bei der näheren Betrachtung schmerzte es mir automatisch am linken Oberschenkel. Ich spürte ein Brennen. Und eine nässende Wunde. Auf einmal auch am rechten Ellenbogen. So, als hätte man sich den Ellenbogen an einer Rutsche … Moment. Der Reihe nach.
Es sind die späten 80er im Landkreis Friesland. Da ging jeder mit seinen Eltern, sofern man nicht die Schuhe der größeren Geschwister auftragen konnte, bis zu 3 x im Jahr Schuhe kaufen.
Im Frühling Halbschuhe. Im Sommer Sandalen und Herbst/Winter Winterstiefel. Wasserdicht natürlich. Und das machte man meistens beim Schuhhaus Pekol in Jever. Damals DIE Adresse für Schuhe. Für die ganze Familie.
Auch wenn man als Kind meistens wenig Lust auf den Schuhkauf an sich hatte. Auf das Anprobieren. Auf das mit dem Daumendrücken lassen.
„Hast noch Platz?!“ „Lauf mal!“ „Und? Schlupfst Du?!“ „Hm?!“ „Magst die leiden?“
Vor allen Dingen die letzte Frage: „MAGST. DIE. LEIDEN?!“
Was so viel bedeutete wie: „Gefallen Dir die Schuhe genauso gut wie uns?“ Und sie beinhaltete auch schon die Antwort: „Auch wenn DU die nicht leiden magst, WIR mögen die leiden und kaufen die trotzdem!“
„Mmh-mmh. Kann ich jetzt rutschen gehen?!“
Genau. Die Rutsche. Das heimliche Highlight bei dieser Schuhkaufaktion. 3m hoch, 10m lang. Die Rutsche war über 20 mit Teppich bezogene Stufen zu erreichen. Oben angekommen prüfte man, ob der Weg frei war, und stürzte sich die naturfarbene versiegelte Holzrutsche mit Rechtskurve und schwarzen Holmen runter. Auf Socken. Weil man sich an das freundliche Verbot „Schuhe aus!!!“ hielt.
Und man rutschte zu jeder Jahreszeit. Und mit an die Jahreszeit angepassten Klamotten.
Doch bevor man rutschen ging, bestaunte man etwas anderes. Die Musikbox. Sie stand am Fuße des Treppenaufgangs. 7 bewegliche Stoffäffchen aus dem Horrorkabinett, ausgestattet mit kleinen Äffchen-Musikinstrumenten und Sombreros, starrten jeden Betrachter mit ihrem debilen Grinsen aus ihrem künstlich geschaffenen Südseeparadies durch die Glasscheibe an und warteten darauf, mit Geld gefüttert zu werden um ihre exotische Musik aus dem im unteren Teil der Musikbox installierten Lautsprecher zum Besten geben zu können.
Kaum gleiteten die Münzen in den Einwurfschlitz, sprang das Licht in der Box an, die Musik düdelte los und die Äffchen trommelten und tröteten um ihr Leben. Vielleicht freuten sie sich auch einfach nur, weil sie genau wussten, was gleich passieren würde. Zumindest im Sommer.
„Komm, wir gegen Halbschuhe kaufen“ war meistens gefahrenlos.
Wenn man Halbschuhe oder Winterstiefel brauchte, hatte man ja meistens lange Klamotten an. Aber wehe es hieß: „Komm, wir gehen Sandalen kaufen“ wusstest Du – und auch die Äffchen – dass die Wahrscheinlichkeit, heute Nacht mit einem an der Rutsche aufgeschürften Ellenbogen und/oder Oberschenkel am Bettlaken festzukleben, sehr groß sein wird.
Man konnte ja nicht nicht rutschen. Das war ja quasi ungeschriebenes Gesetz: Wer Schuhe kauft, muss vorher die Äffchen füttern und dann rutschen.
„Kann ich jetzt nochmal rutschen?!“
„Ja. Aber nur noch ein Mal! Aber pass mit Deinem Oberschenkel und dem Arm auf!“
„Jaaa-haaa!“
Treppe, polter, rutsch. Das nächste was jeder in dem Schuhgeschäft hörte, war das Geräusch von Kinderhaut auf Holzrutsche, gefolgt von Kinderweinen.
„Habe ich Dir doch gesagt … wir machen zu Hause Silberpuder drauf!“
Gefühlt spielte die Äffchenbande mit jedem aufgeschürften Ellenbogen und Oberschenkel immer lauter, fröhlicher und breiter grinsender.
Beim Betrachten des Bildes aus der WhatsApp-Gruppe fragte ich mich, wie viel Meter Kinderhaut auf Holzrutsche, diese Box wohl insgesamt gesehen hat …