Nehmen wir mal an, eine Person holt sein Schulkind aus der Grundschule ab. Da sie über ein gutes Zeitmanagement verfügt (die Person, nicht die Grundschule), hat sie einen kleinen Zeitpuffer eingebaut, den sie nur kurz mit warten verbringt.
Trotz dem sie nur kurz wartet, scannt die Person wie der T-1000 die nähere Umgebung (im Sinne von Löcher in die Luft gucken) und erblickt im Fahrradunterstand, die auffälligen Fahrräder befreundeter Kinder aus der Nachbarschaft.
Es sind Fahrräder, die in der Regel besonders auf den Einsatz abseits befestigter Straßen ausgerichtet sind und daher auch durchaus als Sportgerät durchgehen würden und weisen – so scheint es dem Betrachter – neben ihren auffälligen schönen Farben, eine weitere Besonderheit auf:
Sie sind nicht verschlossen. Zumindest nicht sichtbar. Oder doch? Das kann doch nicht sein, oder? ALARM. ALARM. ALARM. „BI-DU-BI-DU-BI-DU“ schrillen die Alarmglocken.
Die Person macht eine Sichtkontrolle auf Entfernung, da sie eine nähere Inaugenscheinnahme verdächtig machen würde.
Sie prüft ob eine sichtbare Verbindung – beispielsweise der Vorderräder – mit dem fest verbauten Fahrradständer besteht. Da sie dieses aus ihrem Blickwinkel nicht feststellen kann, prüft sie ein weiteres Mal. Negativ. Nicht fest verbunden. Auch nicht mit dem Rahmen.
Möglicherweise verfügen diese Fahrräder über ein neuartiges Bluetooth-Rahmen-Fahrradschloss, das sich mittels App öffnen lässt und für das rote Auge des Betrachters (T-1000) in dem Moment nicht sofort erkennbar ist. Möglich. Viele Grundschüler verfügen dieser Tage über mobile Endgeräte, die das können – Markus-Lanz-Sprech.
Dann wäre das Rad nur nicht gegen Wegtragen gesichert. Immerhin. Aber was, wenn diese neuartigen Schlösser nicht verbaut sind? Die Person prüft erneut. Aus ihrer beruflichen Ausbildung weiß sie, dass ein guter Kaufmann immer zwei Mal prüft (schon erledigt) und besinnt sich auf die Bundeswehrzeit und die dort erlangten Aufklärungsskills (aus Sicherheitsgründen dürfen diese nicht näher erläutert werden).
Und siehe da: Ein Fahrrad verfügt über eine sichtbare Diebstahlsicherung. Gott sei Dank. Allerdings baumelt sie am rechten Lenkergriff. Und dieser ist nach erneuter Sichtprüfung auch nicht mit dem fest verbauten Fahrradständer verbunden.
Idee: Gut. Ausführung: Ungenügend.
Die Person erinnert sich in dem Moment an den Tag, als man ihr an ihrem 31. Geburtstag, ein nicht verschlossenes signalfarbenes Fahrrad, das besonders auf den Einsatz abseits befestigter Straßen ausgerichtet war, aus dem Hausflur einer Innenkleinstadtwohnung entwendet hatte, während sie aus einer gegenüberliegenden Kneipe Getränkeflaschen für ihre sich im Obergeschoss im Gange befindlichen und sehr coole Geburtstagssause, holen wollte …
Das schöne Fahrrad. Das hatte ihr in der damaligen Zeit schöne Ausfahrten beschert. Gerade am Wochenende. Durch die Landschaft fahren, dabei Musik hören. Die braunen Schwalbe-Reifen matchten perfekt zum orangenen FELT-Trapezrahmen. Das Fahrrad hatte sie damals von einem lieben Freund übernommen. Es war zum treuen Begleiter und Fitnessgerät geworden und hatte ihr geholfen, „den Kopf frei zu bekommen“ – wie man damals „neudeutsch“ gesagt hat.
Peter Lustig nannte es: Abschalten.
Wo es jetzt sein mag?
Der Person rannen Tränen über das Gesicht, als die Schulklingel sie aus ihrem Gedankenausflug in die Realität zurückholte.
„Ding-Dang-Dong“. Im Takt der Schulklingel ohrfeigte sie sich selbst und wischte sich die Tränen weg: „Du musst jetzt stark sein!“
Wenig später strömten viele Schulkinder an ihr vorbei.
U. a. auch die ihr persönlich bekannten Besitzer der Sportgeräte. Sollte sie sie ansprechen? Und sie subtil auf die ausbaufähige Diebstahlsicherung aufmerksam machen? Oder käme das zu Oberlehrerhaft rüber? Niemand wollte von einer erziehungsberechtigten Person eines anderen Kindes angesprochen oder auf etwas hingewiesen werden. Schwierig.
In dem Moment kamen augenscheinliche Mitschüler dazu. Als sie sahen, dass die Besitzer die Räder wie von Zauberhand und in Siegfried & Joy-Manier ohne aufzuschließen, einfach aus dem Fahrradständer zogen, platzte es aus einem heraus:
„Sind eure Räder NICHT abgeschlossen?!“
„Nö! Klaut hier doch eh keiner …“ lautete die sinngemäße Antwort.
„Wenn man sowas sagt, dann wird das am Montag bestimmt geklaut!“ merkte einer an.
„Wenn das so ist, dann kriegst Du Montag mein Handy!“ erwiderte ein Besitzer.
Merkwürdiger Take, aber was wusste die Person schon über Gepflogenheiten und des Kodex eines Grundschulpausenhofs im Jahre 2025. War sie doch selbst schließlich ein Alumnus von 1993.
Die Person überlegte, was sie mit dieser gesicherten Information jetzt machen sollte.
Die Eltern ansprechen und auf den Mangel hinweisen? Aber wie? Oder nichts sagen? Würde sie sich dann im Falle eines zukünftigen Diebstahls mitschuldig machen? So unterlassene hilfeleistungsmäßig? Oder Zurückhalten von Informationen?
Oder sollte sie einen subtilen Hinweis geben? Und wenn ja, in welcher Form? Über eine Annonce im sonntagstipp? Per WhatsApp? Mit Hilfe einer Wenn-Dann-Formel? „WENN ich die Eltern deiner Kinder wäre, DANN würde ich sie aus Gründen auf eine ausreichende Diebstahlsicherung der Fahrräder hinweisen?“
Oder eine hypothetische Frage im Internet stellen?
Sie wollte in jedem Fall die Besitzer schützen, sie nicht verpetzen oder eine Snitch sein. Sie wollte auch nicht, dass sie möglicherweise Ärger bekämen. Sie wollte sie lediglich vor dem ersten Schmerz eines Verlusts der velozipeden Freiheit und Unabhängigkeit bewahren.
Und die Eltern vor dem nächsten Klick ins Fahrradfachgeschäft.
Gilt übrigens viceversa.
Das sind wir Karl von Drais allemal schuldig.